Es war einmal… vor 10 Jahren, da begab es sich, dass ein paar tollkühne Genetiker vor die Welt traten und verkündeten, dass das Himmelreich nahe sei. Denn mit der Entzifferung des menschlichen Erbguts werde alles gut. Die Welt bräuchte fortan nicht mehr zu leiden unter den “großen Geißeln” der Menschheit, denn die Genetik wäre nun in der Lage, alle diese schlimmen Krankheiten zu besiegen. Und da viele dieser tollkühnen Überflieger noch nicht gestorben sind, behaupten sie diesen Schwachsinn auch heute noch.

Heute zeigt die Realität, dass die Ideen von damals mehr utopischen Charakter hatten und besser in ein Drehbuch für einen Science-Fiction-Film passen. Denn wenn noch nicht einmal die genaue Genzahl des Menschen bekannt ist, wie kann man dann entschlüsseln und entziffern?

Wenn man die Literatur durchstöbert, auf der Suche nach Quellen über die genaue oder auch nur ungefähre Anzahl der Gene beim Menschen, dann kommt man sich vor wie in einem Großkaufhaus. Es wird eine Unzahl an Zahlen gehandelt, von 20.000 bis 35.000 ist alles dabei. In früheren Zeiten, also im Jahre 0 der Genetik oder 2001 A.D., war man noch überzeugt, dass mit Größe und Komplexität einer Gattung auch deren Genzahl zunahm. Natürlich waren wir Menschen, als Krone der Schöpfung, auch mit den meisten Genen ausgestattet. Leider war bzw. ist dem nicht so. Es stimmt zwar, dass die Zahl der Basenpaare, also die Genomgröße, beim Menschen deutlich größer ist als zum Beispiel beim Regenwurm. Aber die Anzahl der Gene scheint mit der Anzahl der Basenpaare nur indirekt etwas zu tun zu haben.

 

Ein Beispiel: Wenn Bierhefe (Prost!) 12,1 Millionen Basenpaare hat und 6034 Gene, dann müssten der Mensch mit seinen 3,2 Milliarden Basenpaaren etwa 1,6 Millionen Gene besitzen. Der höchste Wert, den ich finden konnte, lag aber bei nur 35.000 Genen. Wer also hat da die restlichen 1,5 Millionen und mehr Gene unterschlagen? Oder gibt es die wirklich nicht? Man könnte jetzt meinen, dass 35.000 Gene leichter zu erforschen seien als 1,6 Millionen, und dass alles übersichtlicher wäre aufgrund der deutlich kleineren Zahl. Ist es aber nicht. Es wird deutlich komplizierter, nicht zuletzt weil die Basenpaare eine unbekannte Korrelation zu den tatsächlich aktiven Genen haben. Und dieses Zusammenspiel scheint derartig komplex und “verwirrwarrt” zu sein, dass eine schnelle und saubere Entwirrung und Erklärung des gesamten Sachverhalts Zukunftsmusik ist.

Alles doch nicht ganz so einfach …

Und so ist es dann auch gekommen, wie es kommen musste: Statt zügiger Veröffentlichung von genetischen Landkarten, Genomen und medizinischen Lösungen, die auf dem neu gewonnenen Wissen basierten, gab es nur langsame und mühsame Erkenntnisse. Die einzige Erkenntnis, die schnell gewonnen wurde, war, dass alles viel komplizierter ist, als man zuvor gedacht hatte. Denn ursprünglich hegten die Wissenschaftler die irrige Meinung, dass man nur das gesamte Erbgut zu entziffern brauchte – wie man einen Geheimcode knackt – und schon hatte man schwarz auf weiß das Geheimnis des Lebens in der Hand. Krankheiten könnten aufgrund der Abweichungen von der Norm ausgemacht werden.

Und die dazugehörigen Therapien? Sollten diese Leute wirklich so blauäugig gewesen sein, zu glauben, dass genetisch bedingte Erkrankungen durch ein einfaches Reparieren oder Austauschen des beschädigten Gens zu heilen sind? Wie in der Autoreperaturwerkstatt? Falsch gedacht.  Abgesehen davon, dass der menschliche Organismus “lebt” und man nur schlecht eingreifen kann. Be einem lebenden Menschen ist es auch dann unmöglich, selbst wenn es diese Option geben würde. Denn es ist nicht nur ein zu lokalisierendes Teil, das ausgetauscht werden müsste. Dann müsste man etliche Milliarden Körperzellen reparieren, weil eine genetische Erkrankung in jeder Körperzelle vorliegt.

Das falsche Yin-Yang westlicher Wissenschaft

Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Wo viel falsche Begeisterung ist, ist auch viel falsche Angst. Genauso wie die verrückten Allmachtsträume der Wissenschaft nichts mit der Realität zu tun haben, hat auch die Angst vor der Wissenschaft und die damit gekoppelte Wissenschaftsfeindlichkeit der Nicht-Wissenschaftler nichts mit der Realität zu tun. Es gibt überhaupt keinen Grund, sich vor der Wissenschaft zu fürchten. Denn die Wissenschaft ist, wenn sie ordentlich betrieben wird, nichts als ein Instrument, ganz wie Messer und Gabel.

Und wer hat schon Angst vor Messer und Gabel? Wenn Sie mal jemanden sehen, der mit den Fingern isst, das muss dann jemand sein, der sich vor dem Esswerkzeug fürchtet. Oder ist es nur eine andere Sichtweise auf die Dinge? Eine Furcht vor der Wissenschaft und ein ewiges, langweiliges Kritisieren der Wissenschaft als solche nimmt nur die in Schutz, vor denen wir wirklich Angst haben sollten: Die Machtmenschen. Sie nutzen die Ergebnisse der Wissenschaft für ihre eigenen Bedürfnisse aus. Das ist aber eine ganz andere Kiste als über die Wissenschaft neues Wissen zu erlangen.

Dieser ganze Kritikrummel um die “Allmacht der Wissenschaftler”, den “gläsernen Menschen” usw. ist nichts als die andere Seite der Medaille von Übermut und Überschätzung der Wissenschaft. Denn einer Ablehnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse müsste konsequenterweise auch eine Abschaffung längst eingeführter Ergebnisse der Wissenschaft folgen. Wenn Wissenschaft etwas so Schreckliches ist, das in Grund und Boden verdammt werden muss – weil so fürchterlich gefährlich und unberechenbar – dann müssen wir alles Fluggerät, Autos, Medizin, Computer usw. auch mit abschaffen. Denn das alles ist Resultat wissenschaftlicher Bemühungen. Aber wer will schon wieder zurück ins Mittelalter?

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Keine Furcht, sondern gesunde Kritikfähigkeit ist gefragt

Es gibt also keinen Grund, die Wissenschaft oder in diesem Fall die Genetik zu verdammen oder zu fürchten. Man hat vielmehr allen Grund, die Leute zu fürchten, die mit zu viel oder zu wenig Wissen diese Wissenschaft hoch leben lassen oder zutiefst verdammen wollen. Und dies ist kein spezifisches Problem der Genetik. Dies ist ein Vorgang, der bei praktisch jeder Form von Wissenschaft vorgekommen ist und immer wieder vorkommt: Auf der einen Seite überzogene und oft völlig falsche Erwartungen (Beispiel: “genetisch manipulierte Nahrungsmittel beseitigen den Welthunger”), auf der anderen Seite irrationale Ängste (“die Genetik macht aus uns allen Klone, die nur noch eine bestimmte Handbewegung machen können”).

Die Realität scheint eher zu sein, dass die Genetik im Essen den Welthunger nicht beseitigen kann, weil dessen Ursache mit Genetik nichts zu tun hat. Und das Wissen um die Grundlagen der Vererbung immer noch hauchdünn ist, dass man überhaupt nicht weiß, welche Konsequenzen ein Eingriff in die Genetik von Pflanzen mit sich bringt. Immerhin wurde versucht, Getreidesorten genetisch so zu verändern, dass sie mehr Ertrag abwarfen. Das taten sie dann auch, aber nur im Gewächshaus. Einmal auf die natürliche Scholle ausgesät, lieferten sie nicht mehr oder sogar weniger als „normales“ Getreide ab.

Es traten auch noch andere Probleme auf, z.B. als Konkurrenten zum normalen Getreide, Erkrankungen etc. Wenn die Genetik also den Schlüssel des Wissens mit der Entzifferung des genetischen Codes in der Hand hält, dann bleibt unverständlich, warum das genmanipulierte Getreide sich nicht wissenschaftlich verhält. Und wer hier das “Ende des Unwissens” verkündet, der zeigt entweder wie unwissend er wirklich ist oder er macht Marketing für Gen-Produkte, mit denen man viel Geld machen kann, wenn nur genug Leute an die falsche Allmacht der Genetik glauben.

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Zellkern-DNA – die eine Hälfte der Miete

Die Konzentration auf die Zellkern-DNA scheint nicht nur den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt zu fördern, sondern zugleich auch zu hemmen. Es ist nicht zu leugnen, dass eine Entschlüsselung des menschlichen Genoms ein wissenschaftlicher Fortschritt wäre. Die ersten Schritte dazu sind ja dann auch unternommen worden. Aber bis heute sind die 20.000 oder 35.000 oder wie viel Gene des Menschen nicht vollständig erschlossen worden. Man weiß nicht einmal, wie viele Gene der Mensch denn nun wirklich hat. Sachen, die ich nicht kenne, kann ich auch nicht analysieren. Aber dass, was man zwischenzeitlich hat entschlüsseln können, ist eine Bereicherung für die Grundlagenforschung.

Eine praktische Anwendung im medizinischen Bereich gibt es kaum bzw. gar nicht. Denn die Arbeit der Gene scheint nicht mit dieser Gradlinigkeit abzulaufen, die zuvor als Modell angenommen worden ist. Das mag vielleicht bei Einzellern so gegeben sein, die oft mit einem reduzierten Satz an Genen auskommen müssen. Aber beim Menschen können Gene komplett verschiedene Aufgaben übernehmen, sich gegenseitig kontrollieren, stumm sein etc. Diese Eigenschaften kann man leider nicht unter einem Mikroskop erkennen. Somit ist es schon ein großes Rätselraten, welche der 3,2 Milliarden Basenpaare für die 20.000 bis 35.000 Gene zuständig sind. Aber die richtige Beantwortung all dieser Fragen ist nur die Hälfte der Miete.

Für die Strukturierung des Lebens ist die Zellkern-DNA nicht hauptsächlich, aber mit verantwortlich. Denn es gibt andere Faktoren, ohne die Leben nicht möglich wäre. Denn es gibt nicht nur DNA im Zellkern, sondern auch außerhalb des Kerns. Es gibt DNA in den Mitochondrien, die allerdings anders strukturiert ist. Sie liegt nicht als Strang, sondern als Ring vor. Des Weiteren gibt es die Epigenetik:

“Die Epigenetik ist ein Spezialgebiet der Biologie. Sie befasst sich mit Zelleigenschaften (Phänotyp), die auf Tochterzellen vererbt werden und nicht in der DNA-Sequenz (dem Genotyp) festgelegt sind. Hierbei erfolgen Veränderungen an den Chromosomen, wodurch Abschnitte oder ganze Chromosomen in ihrer Aktivität beeinflusst werden. Man spricht infolgedessen auch von epigenetischer Veränderung bzw. epigenetischer Prägung. Die DNA-Sequenz wird dabei jedoch nicht verändert.” (Wikipedia)

Das heißt doch letztendlich, dass die Zell-DNA eben nicht die alleinige Kontrolle über Zellvorgänge hat, sondern dass hier ein ganzes Orchester von Komponenten gut eingestimmt und harmonisch miteinander kooperiert, um das zu erzeugen, was wir “Leben” nennen. Damit wäre die Entschlüsselung des genetischen Codes nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wäre dies geschehen, dann fing die eigentliche Arbeit erst an: Die Beschreibung der Wechselwirkungen mit mitochondrialer DNA, Epigenetik und allem, was dazu gehört.

Und wer kann garantieren (oder auch nicht), ob epigenetische Faktoren für Erkrankungen von größerer Bedeutung sind als eine verrutschte Zellkern-DNA? Vieles lässt diese Vermutung zu, denn eine Mutation der Zellkern-DNA ist meist mit dem Leben nicht vereinbar. Solche Mutationen, die nicht tödlich enden, bescheren dem Kranken oft eine stark verkürzte Lebensdauer, die ihn selten das fortpflanzungsfähige Alter erreichen lässt.

Aber unsere Erkrankungen häufen sich nicht mit Einsetzen der Volljährigkeit, sondern mit Einsetzen der Rente. Das lässt doch die Vermutung aufkommen, dass die Zellkern-DNA weniger mit den üblichen Erkrankungen zu tun hat. Vielmehr können hier Umweltfaktoren auf epigenetische Faktoren Einfluss nehmen und diese mit der Zeit so verändern, dass daraus eine erhöhte Bereitschaft zur Erkrankung wird. Denn bislang hat noch niemand Diabetes, die ja als Typ-2 vererblich sein soll, als Gen rumlaufen sehen.

Und nicht jeder, dessen Eltern beide Diabetiker waren, wird selbst zum Diabetiker. Es besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, das ist richtig. Aber bei den Genen geht es nicht um Wahrscheinlichkeiten. Die feuern oder feuern nicht. Wenn jemand Blutgruppe 0 hat und dessen Lebenspartner ebenso, dann haben alle Kinder 100-prozentig Blutgruppe 0, jenseits jeder Wahrscheinlichkeit. Wenn nicht, dann gibt es ausreichend Gründe für ein Vaterschaftsgutachten. Denn in diesem Fall haben andere Faktoren, wie immer sie auch aussehen mögen, keinen Einfluss auf die Ausprägung der Blutgruppen.

Wie viel ist die Genetik wert?

Ich erwähnte es schon. Aber bei so viel falscher Euphorie und falscher Kritik von und für die Genetik kommt immer der Verdacht auf, dass es um etwas ganz anderes geht: ums Geschäft. Aber wie komm ich in ein Geschäft, das keine Grundlage hat, wo keiner nichts weiß und alles noch in den Sternen steht? Genau das ist das Geschäft! Das ist die Milliarden-Dollar-Frage und jeder will hier auf Nummer Sicher gehen. Es gibt inzwischen eine Art Wettrennen in der Entschlüsselung des menschlichen Genoms.

Dabei haben Firmen begonnen, Patente auf neu gefundene Gene anzumelden . Es gibt sogar Anträge auf Gene, die man noch gar nicht gefunden hat. Beim US Patentamt liegen inzwischen um die 1800 Patentanträge für vollständige Gensequenzierungen vor. Die meisten sind bei Pflanzen gemacht worden, aber in den letzten Jahren gab es einen enormen Anstieg an Patentanträgen für menschliche Gene. Das US Patentamt erlaubt inzwischen Patentierungen von Genfragmenten, auch wenn die Beschreibung des entsprechenden Gens dabei unvollständig bleibt.

Jetzt rennen die Forscher in der ganzen Welt zu den Patentämtern bevor sie eigentlich wissen, was das gerade untersuchte Gen eigentlich macht und wofür es gut oder schlecht ist. Millennium Pharmceuticals, eine amerikanische Biopharmafirma, unterhält inzwischen massive Datenbanken, um Gene zu finden und die Funktionen der von diesen Genen produzierten Proteine vorauszusagen, welches ein schnelleres Vorgehen ermöglicht als mit den sonst üblichen, konventionellen Methoden. Damit wird man Millennium Manager deutlich früher auf den Patentämtern antreffen als die der Konkurrenz.

Und jetzt kommt die Gretchen-Frage: Wer darf ein Gen besitzen? Der Wissenschaftler, der es entdeckt hat? Oder die Firma, die das notwendige Kapital in die Erforschung investierte? Oder die gesamte Menschheit? Kann man wirklich einen Teil des menschlichen Körpers patentieren? Langsam fängt die Sache an, übel zu riechen. Nicht die Wissenschaft sondern die Genetik ist der Stein des Anstoßes. Hier werden nur zu offensichtlich wieder einmal wissenschaftliche Ergebnisse zur Ware degradiert. Und dabei kommt es gar nicht auf die Ergebnisse an. Die sind zweitrangig. Es kommt scheinbar darauf an, ob sie sich verkaufen lassen. Und wie erhöht man die Kauflust von potentiellen Kunden? Durch Marketing und Werbung! Und wie bereitet man dies alles vor? Durch Pre-Marketing.

Was ist Pre-Marketing? Pre-Marketing ist, wenn man hingeht und allen erzählt, dass man in 10 Jahren alles über den Menschen weiß, dank der Genetik. Und Pre-Marketing ist, wenn man dem kleinen Mann von der Straße Angst macht, denn das stellt sicher, dass die Diskussion über dieses Thema lange in aller Munde ist.

Fazit

Die Zukunft hat begonnen. Es wird keine genetisch manipulierten Robotermenschen geben. Doch dafür werden die Menschen keine Wahl mehr haben, wie sie leben, was sie essen etc. Und wenn ich ein Gen trage, was mir patentrechtlich gar nicht gehört, dann bin ich aus Sicht der Rechtssprechung nicht berechtigt, dieses Gen per Zeugungsakt an meine Nachkommen weiterzugeben. Es sei denn, ich bezahle diese Weitergabe als Gen-Miete oder Gen-Leasing, jedes Jahr oder monatlich, bar cash, versteht sich. Und wenn ich mit den falschen Genen auf die Welt komme, dann bin ich ein dauerzahlender Gen-Sklave. Es wird eine schöne neue Welt werden. Amen.


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Kleine Anmerkung: Die Sache mit den “5 Wundermitteln” ist mit Abstand der beliebteste Newsletter, den meine Patienten gerne lesen…

Beitragsbild: pixabay.com – madartzgraphics