Folgende E-Mail erhielt ich von einem Leser mit Überlegungen zur Adipositas / Fettleibigkeit. Mit Erlaubnis des Verfassers stelle ich dies einmal hier im Forum zur Diskussion ein:
Sehr geehrter Herr Gräber,
inspiriert durch Ihren Artikel „Medikamentenskandale und Pharmakartelle“ möchte ich Ihren Blick auf einen analogen Skandal lenken: Fettleibigkeit!
Nach Angaben des RKI sind zwei Drittel der Männer (67%) und die Hälfte der Frauen (53%) in Deutschland übergewichtig. Fast ein Viertel der Erwachsenen (23% der Männer und 24% der Frauen) ist sogar adipös. Das entspricht etwa 17 Mio. Menschen.
Mit der Veröffentlichung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) im Bundesgesetzblatt vom 21.07.2021 wurde die Fettleibigkeit (Adipositas) quasi durch die Hintertür in den Stand einer chronischen Erkrankung erhoben.
Ermöglicht wurde dies durch die beharrlichen Aktivitäten der Lobby aus Gesundheitsanbietern und Leistungserbringern sowie dem jahrelangen politischen Druck der Pharma-, Lebensmittel- und Agrarindustrie.
Ziel ist es die Behandlung der primären (lebensstilbedingten) Fettleibigkeit zukünftig voll umfänglich zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen abzurechnen. Dies soll jetzt unter dem Deckmantel eines Disease-Management-Programms-Adipositas (DMP-Adipositas) umgesetzt werden.
Damit werden die Kosten der Adipositas-Epidemie in Zukunft vollständig auf die Gemeinschaft der Krankenversicherten sowie der Steuerzahler abgewälzt. Die Lobbyisten werden -wie immer- aus der Verantwortung genommen.
Das Kartell der Gesundheitsdienstleister freut sich schon auf einen umfangreichen Katalog neuer Abrechnungsziffern, um mit der dauerhaften, aber erfolglosen Therapie der Adipositas Geld zu verdienen.
Insofern betrachte ich die Initiierung des DMP-Adipositas als eine Nebelkerze, um von den wahren Ursachen der Fettleibigkeit abzulenken.
Die Lebensmittelindustrie, als Hauptverursacher der Adipositas-Epidemie, bleibt jedoch, wie auch schon unter Frau Julia Klöckner, weiterhin ungeschoren (z.B.: freiwillige Selbstkontrolle).
Das Magazin „Der Spiegel“ hat unter dem Aufmacher „Die Menschen Mäster“ bereits 2013 auf die tatsächlichen Ursachen der Adipositas-Epidemie hingewiesen: Es ist der zunehmende Konsum industriell stark verarbeiteter Fertigprodukte, die überwiegend aus gehärtetem Fett, raffiniertem Zucker, Eiweißkonzentraten, viel Salz und zahlreichen künstlichen Zusatzstoffen zusammengesetzt sind. Diese hochkalorischen und gleichzeitig nährstoffarmen Fertiggerichte überfordern unsere biologischen Regulationsmechanismen (Spiegel 2013; 10: 123-130).
Zahlreiche Beobachtungsstudien weisen seit Jahrzehnten ebenfalls auf den Zusammenhang zwischen einer Ernährung mit industriell stark verarbeiteten Fertigprodukten und der Entwicklung von Übergewicht hin [Curr Obes Rep. 2017; 6(4): 420-431; Public Health Nutrition 2017; 21(1): 18-26].
Dass es sich dabei um eine kausale Beziehung handelt, wurde 2019 durch eine randomisierte kontrollierte Studie auch erstmals wissenschaftlich belegt (KD Hall et al. Cell Metabolism 2019; 30, 67–77).
So führt z.B. ein Überschuss in der Energiebilanz von nur 200 Kilokalorien pro Tag bei erwachsenen Männern in einem Jahr zu einer Gewichtszunahme von etwa 10 kg.
Lösungsansatz:
Aus der Verhaltensökonomie wissen wir, dass der Geldbeutel das empfindlichste Sinnesorgan des Menschen ist. So könnte man z.B. frische, unverarbeitete Lebensmittel von der Mehrwertsteuer befreien und stark verarbeitete Fertigprodukte und Getränke auf den erhöhten Steuersatz von 19% (oder höher) anheben. Salz-, zucker- und fettreduzierte Fertigprodukte könnten zum ermäßigten Steuersatz von 7% angeboten werden. Nur durch eine konsequente Verhältnisprävention lässt sich nach Ansicht von Gesundheitswissenschaftlern die Adipositas-Epidemie wirkungsvoll eindämmen bzw. umkehren.
Vielleicht gelingt das mit einem grünen Ernährungsminister. Ein DMP-Adipositas ist das falsche Signal in die Gesellschaft.
Natürlich kann auch jeder selbst etwas gegen Übergewicht und Fettleibigkeit unternehmen, indem er konsequent keine industriell hergestellten Fertigprodukte mehr einkauft. Boykottmaßnahmen treffen die Lebensmittel- und Agrarindustrie immer am härtesten. Dazu gibt es zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit. Wenn die Bevölkerung z.B. 4 Wochen lang keine Margarine mehr einkaufen würde, würden diese Streichfette vom Markt verschwinden.
Dazu bedarf es allerdings einer umfassenden Aufklärung der Bevölkerung, die die oben genannten Zusammenhänge leider nicht kennt. Gleichzeitig muss die Bewerbung ungesunder Fertigprodukte im Fernsehen und Internet unterbunden werden, insbesondere für so genannte Kinderprodukte.
Ich würde mich freuen, wenn Sie das Thema Adipositas in einem Ihrer nächsten Newsletter einmal aufgreifen könnten.