Intensivstation: Das MRGNgrauen
Auf Deutschlands Intensivstationen ist eine Veränderung im Gange. Gestern noch bekämpfte man MRSA. Jetzt kommen MRGN. Die multiresistenten gramnegativen Stäbchen erobern Bett für Bett die Krankenhäuser. Was ist zu tun?
Was sich hinter MRSA verbirgt, wissen inzwischen selbst die meisten medizinischen Laien. Wenn aber von MRGN die Rede ist, ist vielen nicht mehr ganz so klar, worum es geht. Hinter dieser Abkürzung verbergen sich multiresistente gramnegative Stäbchen, bei denen eine weitgehende Resistenz gegenüber verschiedenen Antibiotika vorliegt. Und diese Antibiotikaresistenzen nehmen weiter zu. Selbst wenn hin und wieder von neuen Wirkstoffen aus interessanten Quellen wie Fischschleim oder alternativen Methoden wie Phagentherapien berichtet wird, ist die Gefahr keineswegs gebannt.
Was genau sind MRGN?
MRGN sind gegen Antibiotika der Gruppen Fluorchinolone, Acylureidopenicilline, Cephalosporine der 3./4. Generation, und/oder Carbapeneme resistent. Ist ein gramnegatives Stäbchen gegen Antibiotika aus drei Gruppen resistent, so spricht man von 3MRGN, bei Resistenz gegen alle vier von 4MRGN. Während 4MRGN-Enterobakterien hierzulande noch selten vorkommen, sind 3MRGN-Enterobakterien und 4MRGN-Pseudomonaden dabei, die Intensivstationen zu erobern.
Bei 3MRGN-Pseudomonas aeruginosa ist die Sensibilität gegenüber einer der Wirkstoffgruppen nicht festgelegt, bei 3MRGN-Enterobakterien und 3MRGN-Acinetobacter baumannii besteht eine Empfindlichkeit gegenüber Carbapenemen.
Die von den 3- und 4MRGN hervorgerufenen Infektionen sind dieselben wie bei ihren nicht-multiresistenten Pendants. Da sie aber therapieresistent sind, sind die Erkrankungen langwieriger und verlaufen häufiger letal. Hier ist ein konsequentes Vorgehen bezüglich Hygienemaßnahmen, Resistenzbestimmung und (Kombinations‑) Therapie erforderlich.
Alte Bekannte, die sich verändert haben
Bei den MRGN geht es keineswegs um unbekannte Erreger, sondern eher um Wesensveränderungen alter Bekannter. Klinisch besonders relevant sind Escherichia coli, Klebsiella pneumoniae, Pseudomonas aeruginosa und Acinetobacter baumannii. Sie haben komplexe Resistenzmechanismen entwickelt, zu denen eine Vielzahl von b-Lactamasen mit verschiedenen Hydrolysespektren gehören (Penicillinasen, Cephalosporinasen und Carbapenemasen). Die Ausbreitung von Breitspektrum-b-Lactamasen (extended spectrum betalactamase, ESBL) ist weltweit ein großes Problem.
Prof. Winfried V. Kern, Leiter der Infektiologie am Universitätsklinikum Freiburg, erläutert: „In manchen Regionen gehören Bakterien mit solchen Enzymen bereits nahezu zur Normalflora im Darmtrakt von (Nutz-) Tier und Mensch. Ihre Prävalenz in Deutschland beträgt dagegen weniger als 20 Prozent.“ b-Lactamase-Inhibitoren wie Tazobactam wirken gegen einige, jedoch nicht gegen alle b-Lactamase-Typen.
Strategische Bakterien
Weitere bakterielle Resistenzstrategien sind fehlende Proteinkanäle (Porine) oder potente Effluxsysteme, die Carbapeneme zügig wieder aus der Zelle befördern. Fluorchinolone haben die DNA-Gyrase und Topoisomerase IV der Bakterien zum Ziel, die bei resistenten Keimen verändert oder durch eine Überexpression von Effluxsystemen geschützt sind.
Resistenzgene liegen häufig auf Plasmiden, die eine Weitergabe von Bakterium zu Bakterium über horizontalen Gentransfer erlauben. Oft kommen auch Multiresistenzplasmide vor, zum Beispiel eine Kopplung von b-Lactamase und Fluorchinolonresistenz bei Enterobakterien.
Die hohe Anpassungsfähigkeit der gramnegativen Bakterien bringt für die pharmazeutische Industrie ein hohes betriebswirtschaftliche Risiko mit sich. Denn einer teuren Wirkstoffentwicklung folgt möglicherweise nur eine kurze Marktpräsenz.
MRSA war gestern, MRGN kommen morgen
Seit Jahren wird auf Intensivstationen in Deutschland eine Abnahme von methicillin-resistenten Staphylokokken (S. aureus, MRSA) beobachtet: 2009 waren es noch 27,7 Prozent, 2014 nur noch 16,6 Prozent. Dies wird damit erklärt, dass es schon seit über 20 Jahren gezielte Präventionsmaßnahmen gibt und mehrere gut wirksame Substanzen verfügbar sind. Wesentlich schlechter sieht es in vielen süd- und osteuropäischen Ländern aus.
Der Anteil von 3MRGN-E. coli, 3MRGN-K. pneumoniae und 4MRGN-P. aeruginosa hat dagegen in den letzten Jahren zugenommen. 2003 waren in Deutschland noch weniger als ein Prozent der E. coli-Isolate gegen Cephalosporine der 3. Generation resistent, 2014 waren es bereits 11,5 Prozent. Pro 100 Intensivpatienten gab es zwischen 2013 und 2017 2,04 Fälle mit MRGN, 1,37 mit MRSA und 0,75 mit vancomycin-resistenten Enterokokken (VRE). Gegen letztere gibt es nur wenige wirksame Alternativen.
2012 wurde von der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention des Robert-Koch-Instituts (KRINKO) eine Empfehlung zum Umgang mit MRGN in medizinischen Einrichtungen herausgegeben.
MRGN als Mitbringsel von Reisen und aus Ställen
Manchmal haben Touristen unerwünschte Souvenirs dabei: Besonders aus Indien, Thailand, China, dem Nahen Osten/Nordafrika und Lateinamerika werden MRGN im Darm importiert. Laut Idelevich et al. liegt die Besiedlung bei Reiserückkehrern aus Indien bei mehr als 70 Prozent. Die Besiedlung geht im Lauf der Zeit wieder verloren, man nimmt aber an, dass die Bakterien unter einer Antibiotikatherapie vermehrt ausgeschieden werden, während sensitive Erreger unterdrückt werden.
Einer Studie vom Landesuntersuchungsamt in Rheinland-Pfalz zufolge betrug die Prävalenz von ESBL-positiven Stuhlproben unter 1.544 Asylsuchenden, die zwischen April 2016 und März 2017 nach Deutschland kamen, 19 Prozent. Bei Menschen aus Afghanistan, Pakistan und dem Iran war sie mit 29,3 Prozent am höchsten, gefolgt von 20,4 Prozent bei Syrern und 11,9 Prozent bei Personen aus Eritrea und Somalia.
Besiedlungen mit Carbapenem-resistenten Erregern fand man bei der Untersuchung in Rheinland-Pfalz keine. Das steht im Gegensatz zu einer anderen Untersuchung, in der Besiedlungen bei sechs von 290 Asylsuchenden während eines Krankenhausaufenthaltes in Deutschland festgestellt wurden.
Für Landwirte und Schlachthofmitarbeiter sind Nutztiere eine Infektionsquelle: ESBL-bildende E. coli wurden bei 33 Prozent der Geflügel-, 13 Prozent der Rinder-, 6 Prozent der Schweinehalter und 25–33 Prozent der Schlachthofmitarbeiter gefunden. Auch in Hundekot wurden die Erreger zu 14 Prozent nachgewiesen.
Wie behandeln?
Carbapeneme sind Mittel der Wahl bei Infektionen mit 3MRGN-Enterobakterien und A. baumannii. Schwere Infektionen mit 4MRGN-Enterobakterien werden nach umfangreichem Antibiogramm und Ermittlung der minimalen Hemmkonzentration von Carbapenem individuell mit Kombinationstherapien behandelt. Hier sind ein umfassendes klinisches und mikrobiologisches Monitoring sowie eine Isolierung des Patienten erforderlich.
Infektiologe Prof. Kern sagt: „Im niedergelassenen Bereich wird empirisch behandelt und erst bei Versagen ein Antibiogramm angefertigt. Das ist in Deutschland in der Regel kein Problem, denn wir wissen zum Beispiel bei einer Harnwegsinfektion, dass die Empfindlichkeit gegenüber den Standardmedikamenten bei 95 Prozent liegt. Bei den verbleibenden fünf Prozent hat man immer noch die Möglichkeit, die Therapie zu verlängern, die Dosis zu erhöhen oder ein Alternativ-Medikament zu verwenden.“
Kern verweist darauf, dass Fortbildungen wahrgenommen und die aktuellen Leitlinien befolgt werden sollten, denn die Empfehlungen ändern sich mit der Zeit. Er kritisiert beispielsweise, dass immer noch viele Hausärzte Fluorchinolone verschreiben, obwohl sie bei zahlreichen Indikationen nicht mehr das Mittel der Wahl sind. Auch die Bevorzugung von oralen Cephalosporinen gegenüber Penicillinen hält er für problematisch, weil sie zum Teil nicht besonders gut aufgenommen werden. „50–60 Prozent Wirkstoff werden nicht resorbiert, verbleiben also im Darm und können unnötige Störungen der Darmflora verursachen“, so Kern.
Angebliche Penicillin-Allergien torpedieren leitliniengerechte Behandlung
Gründe für die Verschreibungen seien unter anderem bequemere Einnahmerhythmen oder der – oftmals unbegründete und nicht gesicherte – Verdacht auf eine Penicillin-Allergie. Kern beobachtet: „Aufgrund von unklaren oder Fehldiagnosen bekommen viele Patienten nicht das Mittel der ersten Wahl.“ Ein Verdacht auf eine Penicillin-Allergie solle später gesichert werden, denn er erweise sich in vielen Fällen als unbegründet. „Wenn jemand als Kind einmal einen Ausschlag auf Penicillin hatte, kann man durchaus viele Jahre später Amoxicillin als Mittel der ersten Wahl probieren. Wenn es dann wieder zu einem Ausschlag kommt, ist die Allergie wenigstens gesichert“, empfiehlt der Infektiologe.
Er betont: „Infektionen durch multiresistente Erreger benötigen nicht immer eine Therapie mit Reserveantibiotika.“ Zum Beispiel sei Piperacillin/Tazobactam in vielen Fällen eine geeignete Alternative, um die Verwendung von Carbapenemen, und damit die Resistenzentstehung, zu vermeiden.
Kern führt an, dass Pneumokokken und Haemophilus, die klassischen bakteriellen Erreger von Atemwegsentzündungen und Pneumonie, in Deutschland meist noch gut auf die Basis-Antibiotika Penicillin bzw. Amoxicillin ansprechen würden. Im Zweifelsfall sei Doxycyclin als Reservepräparat Cefuroxim überlegen.
„Auch wenn es manchmal mühsam ist, mit dem Datenwust Schritt zu halten, ist es unsere Aufgabe und Verantwortlichkeit, die aktuellen Empfehlungen bestmöglich umzusetzen“, resümiert Kern.
Artikel von Karen Zoufal
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