Aber man muß weit zurückgehen, ungefähr bis in das 3. Jahrtausend,
vielleicht noch weiter zurück, um das zu verstehen, was in den Ge-
mütern lebte, welche später die Jesus-Empfindung aufnahmen. Dort
ungefähr, wo die jütische Halbinsel mit dem heutigen Dänemark ist, da
war das Zentrum, von dem in jenen alten Zeiten bedeutende Mysterien-
impulse ausgingen. Und diese Mysterienimpulse hingen damit zusam-
men - das mag der heutige Verstand beurteilen, wie er will -, daß noch
im 3. Jahrtausend vor unserer christlichen Zeitrechnung in diesem
Norden bei bestimmten Stämmen nur derjenige als ein wirklich erden-
würdiger Mensch angesehen wurde, der in gewissen Wochen der Win-
terszeit geboren war. Das kam daher, daß von jener geheimnisvollen
Mysterienstätte auf der jütischen Halbinsel unter den Stämmen, die
sich damals die Ingävonen nannten, oder von den Römern wenigstens,
von Tacitus, die Ingävonen genannt wurden, der Tempelpriester den
Impuls gab, daß nur zu einer bestimmten Zeit - im ersten Viertel des
Jahres - die geschlechtliche Verbindung der Menschen stattfinden sollte.
Jede geschlechtliche Verbindung der Menschen außer der Zeit, die von
dieser Mysterienstätte aus verfügt wurde, war verpönt; und derjenige
war ein minderwertiger Mensch innerhalb dieses Stammes der Ingävo-
nen, der nicht in der Zeit der finstersten Nächte, in der kältesten Zeit,
gegen unser Neujahr hin geboren wurde. Denn der Impuls von jener
Mysterienstätte ging aus in der Zeit, in welcher der erste Vollmond
nach der Frühlingssonnenwende war. Da nur durfte unter jenen Men-
schen, die sich wirklich verbunden glauben sollten mit den geistigen
Welten, so wie es des Menschen würdig war, in dieser Zeit allein durfte
eine geschlechtliche Verbindung stattfinden. Dadurch, daß die Kräfte,
die in eine solche geschlechtliche Verbindung hineingehen, in der ganzen
übrigen Zeit für die Kraftentwickelung des Menschen aufgespart
wurden, wurde jene eigentümliche Stärke entwickelt, welche - wenig-
stens noch in den Nachklängen - Tacitus zu bewundern hatte, der
ein Jahrhundert nach dem Stattfinden des Mysteriums von Golgatha
schrieb.
So erlebten jene, die dem Stamme der Ingävonen angehörten, in be-
sonders intensiver Weise - die andern germanischen Stämme in abge-
schwächter Art - in der ersten Vollmondzeit nach der Frühlingssonnen-
wende den Vorgang der Empfängnis: nicht im Wachbewußtsein, son-
dern in einer Art von Traumverkündung. Sie wußten jedoch, was das
zu bedeuten hat im Zusammenhange des Menschengeheimnisses mit den
Himmelsgeheimnissen. Ein geistiges Wesen erschien der Empfangenden
und verkündete ihr wie in einem Gesichte den Menschen, der durch sie
auf die Erde kommen sollte. Kein Bewußtsein gab es, sondern nur ein
Halbbewußtsein in der Sphäre, welche die Menschenseelen erlebten,
wenn das Hereintreten des Menschen in die physisch-irdische Welt sich
vollzieht. Unterbewußt wußte man sich regiert von Göttern, die dann
den Namen der «Wanen» erhielten, was zusammenhängt mit «wähnen»,
mit demjenigen, was nicht bei äußerem vollen intellektuellen Bewußt-
sein verläuft, sondern in «wissendem Traumesbewußtsein».
Dasjenige, was zu einer Zeit da war, und was für diese Zeit ange-
messen war, das erhält sich oftmals in späteren Zeiten in äußeren Sym-
bolen. Und so hat die Tatsache, daß in diesen alten Zeiten das heilige
Geheimnis der Menschwerdung ins Unterbewußte gehüllt war und dazu
geführt hat, daß alle Geburten zusammengedrängt waren in einen be-
stimmten Teil der Winterszeit, so daß es wie sündhaft angesehen wurde,
wenn auch zu einer andern Zeit ein Mensch geboren wurde, sich ge-
wissermaßen erhalten in dem, wovon im Grunde genommen nur Split-
ter in das spätere Bewußtsein übergegangen sind, Splitter, deren Sinn
bisher keine Gelehrsamkeit enthüllt hat. Ja, diese gesteht offen ihre
Ohnmacht ein, sie zu enthüllen. Splitter haben sich erhalten in der
sogenannten Herta- oder Erda- oder Nertus-Sage. Denn im Grunde ge-
nommen ist alles, was man in äußerer Beziehung über die Nertus-Sage
weiß, mit Ausnahme einiger Notizen, im Tacitus enthalten, der über
den Nertus- oder Herta-Dienst das Folgende berichtet:
«Die Reudigner, Avionen, Angeln, Variner, Eudosen, Suardonen,
Nuithonen - deutsche Völker zwischen Flüssen und Wäldern woh-
nend» - das sind ungefähr die einzelnen Stamme, die zu den Ingä-
vonen gehören - «verehren insbesondere die Nertus, das ist: die
Mutter Erde, und glauben, daß sie sich in die menschlichen Dinge
mischt und zu den Völkern gefahren kommt.»
In alten Zeiten wußte aus dem religiösen Dienst der Wanen heraus jede
Frau, die der Erde einen Erdenbürger geben sollte, in ihrem Traum-
bewußtsein, daß ihr die Göttin, die später als Nertus verehrt wurde,
erscheinen würde. Die Gottheit wurde aber nicht eigentlich weiblich,
sondern mann-weiblich vorgestellt, Nertus ist nur später durch eine
Korruption vollständig zum weiblichen Prinzip geworden. Gerade so,
wie der Maria der Erzengel Gabriel sich näherte, so näherte sich in den
alten Zeiten die Nertus auf ihrem Wagen derjenigen, die der Erde einen
Erdenbürger geben sollte. Das sahen im Geiste die betreffenden Frauen.
Später, als der Mysterienimpuls in dieser Art längst verglommen war,
feierte man dieses Ereignis im Nachklang, im Symbolum, und das sah
noch Tacitus und beschreibt es wie folgt:
«Auf einer Insel des Ozeans ist ein heiliger Hain und in ihm steht ihr
geweihter Wagen mit einem Teppich bedeckt. Nur allein der Priester
darf ihm nahen.»
Diesen Priester dachte man sich eben als den Eingeweihten des Herta-
Mysteriums.
«Dieser weiß es, wann die Göttin im heiligen Wagen erscheint. Er
ahnt die Gegenwart der Göttin in ihrem Heiligtume und begleitet in
tiefer Ehrfurcht ihren von Kühen gezogenen Wagen. Da gibt es denn
fröhliche Tage und Feste an allen Stätten, welche die Göttin ihres
Besuches und Aufenthaltes würdigt. Da ist froher Tag und Hoch-
zeit. Da wird kein Krieg gestritten, keine Waffe ergriffen, das Eisen
verschlossen. Nur Friede und Ruhe ist dann bekannt und gewünscht,
bis die Göttin, des Umganges mit Sterblichen satt, von demselben
Priester in ihr Heiligtum zurückgeführt wird.»
So war auch wirklich die Vision. In solchen alten Urkunden werden
die Dinge recht genau geschildert, die Menschen verstehen sie nur nicht.
«Da ist froher Tag und Hochzeit. Da war kein Krieg gestritten, keine
Waffe ergriffen, das Eisen verschlossen.» So war es in der Tat in der
Zeit, die jetzt unsere Osterzeit ist, wenn die Menschen aus dem inneren
Seelenleben heraus die Zeit der Erdenfruchtbarkeit auch für sich ge-
kommen glauben mußten und jene Seelen empfangen wurden, die dann
in der Zeit geboren wurden, die jetzt unsere Weihnachtszeit ist. Zur
Osterzeit war die Empfängniszeit. Und hierauf bezog sich, weil man
das Ganze als kosmisch-heiliges Mysterium ansah, dasjenige, was später
sein Symbolum in dem Nertus-Dienst gefunden hat. Das Ganze aber
war gehüllt in das Unterbewußte, hat nicht herauf gedurft in das Be-
wußtsein. Das klingt durch, indem Tacitus jenen Dienst schildert:
«Nur Friede und Ruhe ist dann bekannt und gewünscht, bis die Göt-
tin, des Umganges mit Sterblichen satt, von demselben Priester in
ihr Heiligtum zurückgeführt wird. Hierauf wird der Wagen und
Teppich und die Göttin selbst in einem verborgenen See gewaschen.
Den Dienst dabei verrichten Sklaven, welche sogleich jener See ver-
schlingt.» - Als Pfand, damit alles, was um diese Dinge weiß, in die
Nacht des Unbewußten hinuntersinke. - «Ein heimlicher Schrecken
und ein heiliges Dunkel waltet über ein Wesen, das nur Todesopfer
schauen dürfen.»